Gaisburger Marsch erst 1933 entstanden

veröffentlicht am 02. Juli 2009

Die Ausstellung „Gaisburger Marsch – Auf den Spuren des legendären Eintopfs“ im MUSE-O, den Stadtbezirksmuseum des Stuttgarter Ostens, untersucht auch, wie der vermeintliche „Klassiker“ zu seinem Namen kam. Überraschendes Ergebnis: Das geschah sehr wahrscheinlich erst 1933 im Zusammenhang mit den Eintopfsonntagen des NS-Winterhilfswerks.

Das Gericht „Kartoffelschnitz on Spätzle“ gibt es sicher schon sehr lange; in dem Moment, als in vielen schwäbischen Haushalten Kartoffeln auf den Tisch kamen, wird es als Resteessen entstanden sein, wohl um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Als „aufsteigendes Kulturgut“, wie die Kulturwissenschaftler sagen, erreichte es gegen Ende des Jahrhunderts die bürgerliche Küche. Aus dem Jahre 1897 stammt denn auch das älteste gedruckte Rezept, das eine Ausschreibung von MUSE-O erbracht hat.

Gaisburger Marsch (Foto: Thomas Kraut)

Gaisburger Marsch (Foto: Thomas Kraut)

Der Ausstellungsmacher und Historiker Ulrich Gohl fand nicht weniger als sieben verschiedene Geschichten darüber, wie der Na-me Gaisburger Marsch entstanden ist. Einige lassen sich – wie in der Schau geschehen – leicht widerlegen, andere leiden „nur“ daran, dass sie nicht zu beweisen sind. Besonders populär ist die Version, die Thaddäus Troll 1972 erstmals veröffentlicht hat (und auf die sich offenbar alle Nachfolger direkt oder indirekt beziehen). Danach seien Offiziersanwärter der nahen Bergkaserne um 1910 gerne und manchmal in militärischer Formation nach Gaisburg marschiert, um dort den leckeren Eintopf zu essen.
Leider läßt sich diese schöne Legende nirgendwo belegen. In den Tausenden von Seiten der „Gaisburger Zeitung“, deren Jahrgänge 1901 bis 1933 speziell für die Ausstellung ausgewertet wurden, fand sich weder redaktionell, noch in Anzeigen der Begriff „Gaisburger Marsch“. Die als Entstehungsort des Gaisburger Marsches genannte Bäckerschmide war zur vermuteten Entstehungszeit eine Weinstube mit Konditorei und warb vor allem für ihre Kuchen. Am 31. Mai 1914, also in der mutmaßlichen Blütezeit des „Gaisburger Marsches“, erschien ein Jubiläumsrückblick auf 80 Jahre Bä-ckerschmide, ohne dass der Begriff „Gaisburger Marsch“ fiele. 1922 ging ein Jounalist „zum alten Gaisburger Asyl so mancher Hungrigen und Durstigen, Bedrückten und Bedrängten, zu Frau Bäcker Schmid. Dieselbe beging dieses Jahr ihr 40jähriges Wirtinjubiläum“ – und kein Wort von einem „Gaisburger Marsch“.
In vielen Zusammenhängen hätte der Eintopf auftauchen müssen – wenn es ihn denn unter seinem Namen schon gegeben hätte, so etwa in einem anderthalb Zeitungsseiten langen Gedicht über das Gaisburg der Zeit um 1900 (Gaisburger Zeitung, 19. Mai 1923) oder in einem großen Artikel über schwäbisches Essen, der nicht weniger als 28 typische hiesige Gerichte erwähnt (Festzeitung zum Deutschen Turnfest, Juli 1933). Und auch die zahlreichen Kochbücher aus der Kaiserzeit und den Weimarer Jahren schweigen.
Die erste Erwähnung des Begriffs „Gaisburger Marsch“, welche die Recherche zu dieser Ausstellung erbrachte, stammt vom 25. September 1933. Das Stuttgarter Neue Tagblatt schreibt unter anderem: „Für uns Stuttgarter braucht man nur an den berühmten und mit Recht so beliebten ‚Gaisburger Marsch‘, also ‚Kartoffelschnitz und Spatzen‘, erinnern, ein Eintopfgericht, das, wenn es gut zubereitet und wohl abgeschmälzt ist, sehr wohl seinen Mann nährt.“ In dem Artikel geht es um den ersten „Eintopfsonntag“ des Winterhilfswerks (WHW).
Mit dem WHW wollten die erst kurz zuvor an die Macht gekommenen Nationalsozialisten bedürftigen „Volksgenossen“ durch Geld-, Kleider- und Nahrungsmittelspenden über den Winter helfen: ein Sozial- und vor allem ein Propagandainstrument. Der Direktor des Stuttgarter Stadtarchivs, Dr. Roland Müller, teilte MUSE-O zum Hintergrund auf Anfrage mit: „Als im Herbst 1933 das WHW begründet wurde, gab es in Württemberg noch gar keine organisa-torische Basis der [formal zuständigen] NSV [Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt] und so musste man sich der (offenbar bereitwilligen) Zentralleitung für Wohltätigkeit bedienen.“
Eine Aktionsform des WHW waren die „Eintopfsonntage“, die ersten Sonntage eines jeden Wintermonats (Oktober-März). Die Familien wurden aufgefordert, an diesem Tag nur Eintopf zu essen und das gesparte Geld dem WHW zu geben. Wer nicht „freiwillig“ spendete, hatte gegebenenfalls mit Sanktionen zu rechnen. Gast-stätten durften an diesem Tag ebenfalls nur Eintöpfe anbieten, und zwar zu einem Einheitspreis von einer Reichsmark. 50 Pfennig durfte der Gastronom behalten, 50 Pfennig hatte er als Zwangs-spende abzuführen.

Werbung der Gaisburger Bäckerschmide für "Gaisburger Marsch"; Stuttgarter Neues Tagblatt vom 30. September 1933.

Werbung der Gaisburger Bäckerschmide für "Gaisburger Marsch"; Stuttgarter Neues Tagblatt vom 30. September 1933.

Auch die Gaststätte „Bäcker-Schmid“ in Gaisburg bot am ersten Eintopfsonntag, am 1. Oktober 1933, ein solches Gericht an und annocierte dies in gereimter Form im „Tagblatt“ einen Tag vorher. Hier wie bei der Ersterwähnung fällt auf, dass sich der Begriff „Gaisburger Marsch“ offenbar nicht von selbst versteht, sondern erklärt werden musste!
Eine in ganz Deutschland gestreute Pressemitteilung der Reichs-führung des WHW zum vierten Eintopfsonntag, 7. Januar 1934, be-tonte, Hermann Göhring habe am Dezember-Eintopftag Erbsen-suppe mit Speck verzehrt, bei „Magda Göbbels gab es Brühkartoffeln“. Und als besonders „drollig“ wird mitgeteilt, dass es in Stuttgart ein seltsames Gericht gebe: „‚Gaisburger Marsch‘ (Kartoffeln und Spätzle)“. Der Name des hiesigen Gerichts wurde auf diese Weise also nun reichsweit verbreitet.
Das zeigte Wirkung. Der 1933 erschienene Reiseführer „So ist Stuttgart“ von Fritz West notierte: „Wenn du echt schwäbisch bestellen willst, läßt du den Gaisburger Marsch kommen. Der ist […] eine behäbige Mehlspeise: in Fett gedämpfte Kartoffelschnitten mit Spätzle in der Brühe.“ 1935 kam der Gaisburger Marsch dann erstmals unter diesem Namen in einem Kochbuch vor. Und 1936 schwärmte Sebastian Blau: „Gaisburger Marsch. Vielen Schwaben das Höchste! […] Ist ebenso schmackhaft wie nahrhaft; wenn er richtig geraten ist, muß man beim Essen schwitzen.“
Nicht gänzlich auszuschließen ist, dass der Begriff „Gaisburger Marsch“ mündlich oder in irgendwelchen abgelegenen schriftlichen Quellen auch schon vor 1933 „herumgeisterte“. 1933 jedenfalls tritt er, ausweislich der Akten der „Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins“ im Staatsarchiv Ludwigsburg, massiv zum ersten Eintopfsonn-tag des NS-Winterhilfswerks am 1. Oktober auf und verbreitet sich dann schlagartig. Er steht offenbar für den Zug der Ausflügler nach Gaisburg.

Ausstellung „Gaisburger Marsch – Auf den Spuren des legendären Eintopfs“
MUSE-O, Gablenberger Hauptstr. 130, 70186 Stuttgart
Juni, Juli und Sept. 2009
Geöffnet Sa 14-18, So 13-18 Uhr (mit weiterführenden Informationen)
Eintritt: € 2,-, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei

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