Gefahr für Sittlichkeit und Geschmack
Von Karin Ait Atmane
Das letzte Kino im Stuttgarter Osten hat schon vor Jahrzehnten geschlossen. Trotzdem kann man jetzt wieder unter dem Schriftzug „Ostend-Lichtspiele“ in großen Messinglettern durchgehen, auf roten Kinosesseln Platz nehmen und einen Film anschauen, der allerdings nicht mehr von großen Rollen abgespielt, sondern mit dem Beamer auf die Leinwand geworfen wird. Für die Ausstellung „Vorstadtkino“ wurde ein Raum des MUSE-O vorübergehend zum Mini-Kino umfunktioniert. Hier sind an den Wochenenden Filmklassiker quer durchs 20. Jahrhundert zu sehen, teilweise mit fachlich fundierter Einführung durch Hanns-Georg Helwerth vom Landesmedienzentrum. Im Anschluss an die Vernissage der Ausstellung gab es sogar Live-Musik: Jürgen Schwab, der Kirchenmusiker der Hospitalkirche, begleitete den Stummfilm „Der Golem – wie er in die Welt kam“ direkt neben den Zuschauern sitzend am Klavier – ein ungewöhnliches und intensives Erlebnis.
Den ersten Film überhaupt hat wahrscheinlich Herzogin Wera, die in der Villa Berg wohnte, in den Stuttgarter Osten gebracht: Sie hatte sich die bewegten Aufnahmen von der Krönung des russischen Zaren Nikolaus II. bestellt und sie wohl auch mit ihrem Cousin König Wilhelm II angeschaut. Jedenfalls wurde dieser zum Fürsprecher des neuen Mediums: Er setzte sich dafür ein, dass bei der Ausstellung Elektro-Technik und Kunstgewerbe im Jahr 1896 in Stuttgart öffentlich „Lebende Photograpien“ gezeigt wurden. Darunter war der Film „Ankunft eines Eisenbahnzuges“, der mit Kameras ganz nah an den Schienen aufgenommen worden war. So entstand für die Zuschauer der Eindruck, dass Züge direkt auf sie zu fuhren, „worauf die Leute, so wird erzählt, schreiend das Kino verließen“, berichtete Helwerth.
Schreckmoment hin oder her, der Film eroberte das Publikum. Noch bei der Elektrotechnikausstellung selbst konnten die Eintrittspreise verdoppelt werden. In den Folgejahren waren immer wieder bewegte Bilder in Schaubuden auf dem Cannstatter Wasen oder im Zirkus am Marienplatz zu sehen. 1907 setzte ein kleiner Boom ein, mehrere Gaststätten und Läden wurden zu stationären Kinos umgebaut. Das erste als „Rollfilminstitut“ errichtete Gebäude, waren die Calwer Lichtspiele (wahrscheinlich 1911).
Wie jede neue Technik riefen auch die „Kinematographen“ Bedenken hervor, vor allem die Jugend schien den Kritikern gefährdet: Filme seien eine „ernste Gefahr für Sittlichkeit und Geschmack der Kinder und Ungebildeten“, schrieb im Mai 1912 ein Professor in der „Schwäbischen Kronik“. Auf der anderen Seite taten sich Kinobetreiber und Kinofans zusammen und sammelten Unterschriften fürs neue Freizeitvergnügen.
Sicher ist: Der Siegeszug des Films war nicht aufzuhalten, im Jahr 1912 öffnete auch im Stuttgarter Osten das erste Kino. Wer mehr darüber wissen will, besucht die Ausstellung im MUSE-O oder liest weiter in der nächsten Ausgabe von „Ihr Stadtteil aktuell“.
Vorstadtkino. Die Lichtspielhäuser der Stuttgarter Ostens. Eine MUSE-O-Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Stadtmedienzentrum, voraussichtlich bis Ende September.
MUSE-O, Gablenberger Hauptstraße 130, 70186 Stuttgart.
Geöffnet Sa, So 14 bis 18 Uhr (mit weiterführenden Informationen), ansonsten kann der Schlüssel im Café MUSE-O geholt werden.
Eintritt: 2 Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei.
Weitere Filmvorführungstermine, jeweils um 15 Uhr
21.7. (Lange Ost Nacht) und 22.7. (mit Einführung):
1950er-Jahre, Der Untertan
28.7. (mit Einführung) und 29.7.: 1960er-Jahre, Ben Hur
4.8. und 5.8.: 1970er-Jahre, Die Blechtrommel
11.8. und 12.8.: 1910er-Jahre, Der Golem
18.8. und 19.8.: 1920er-Jahre, Nosferatu
25.8. und 26.8.: 1930er-Jahre, Der blaue Engel
1.9. und 2.9.: 1940er-Jahre, Der dritte Mann
8.9. (mit Einführung) und 9.9.: 1950er-Jahre, Der Untertan
15.9. und 16.9.: 1960er-Jahre, Ben Hur
22.9. und 23.9.: 1970er-Jahre, Die Blechtrommel
29.9. und 30.9. : Wunschfilm